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Kaiserverlag

Johanna oder Die Erfindung der Nation

Profitheater Dramatik, Zeitstücke
Besetzung: 2D / 7H / / Doppelbes. / Sim
Rechte:
frei zur DEA

Jeanne d’Arc lebt heute, und sie lebt zu Beginn des 15. Jahrhunderts. Ein unscheinbares Mädchen mit einer göttlichen Mission. Hinter ihrer jungfräulichen Reinheit lauert das Geheimnis einer Vergewaltigung und unbändiger Ausländerhass.
So macht sie sich auf die Irrwege ihrer Überzeugung, um jenen Populisten an die Macht zu verhelfen, die aus der individuellen Katastrophe politischen Profit zu schlagen wissen.
Bereits nach den ersten grausamen Schlachten gegen die Fremden im Lande manifestiert sich Jeannes Zerrissenheit zwischen Humanität und Sendungsbewusstsein. Doch die Mühlen der Manipulation, der Macht und der politischen Intrige zermahlen ihre Opfer auf den sinnlosen Schlachtfeldern von Fremdenhass und Amoral. Der Doktrin des Machterhalts werden Freund und Feind unterworfen.
Das politisch unruhige Frankreich von 1429 wird zum heutigen Symbol für all jene Länder, in denen Zuwanderungsquoten, Asylgesetze und Ausländerpolitik zum Wahlkampfsubstrat werden. Die frappierende Identität von Machtstrukturen damals wie heute wird offenbar.
Felix Mitterer erzählt diese Geschichte eines verblendeten Bauernmädchens mit den Mitteln des modernen Theaters. Da mischen sich die Medien von heute mit den göttlichen Visionen von damals. Und was seinerzeit die Inquisition im Feuer bereinigte, sediert nun die Psychiatrie. Die Parallelität der Handlungen kulminiert in der Einsamkeit und dem Tod dieses sagenumwobenen Mädchens, das doppelt geschändet am Ende als Opfer seiner selbst und der Politik zurückbleibt.
Ein großartiges neues Stück von Felix Mitterer!


Leseprobe

13. BILD
ZEIT: HEUTE, PSYCHIATRIE, JEANNE IST GEFANGEN

Der Arzt kommt. Es ist Gilles de Rais. Er hat eine Spritze in der Hand, lächelt freundlich, schiebt ihr den Ärmel zurück, gibt ihr die Spritze. Jeanne schaut erstaunt, wehrt sich nicht.
ARZT: So, jetzt fühlst du dich gleich besser, Jeanne.
JEANNE: Sie kommen mir bekannt vor, Herr Doktor.
ARZT: Kein Wunder, Mademoiselle, Sie waren schon ein paar Mal bei uns.
JEANNE: Kann ich mich gar nicht erinnern.
ARZT: (er löst ihr die Fesseln) Bald werden Sie sich erinnern. Was haben Sie denn diesmal angestellt?
Jeanne will sich aufsetzen.
ARZT: (drückt sie sanft nieder) Sie sollten noch ein wenig liegen bleiben. Also, was war’s diesmal?
JEANNE: Ich habe gegen die Fremden gekämpft, gegen die Feinde unserer Nation.
ARZT: Und? Erfolgreich?
JEANNE: Nein, ich bin nicht mehr erfolgreich. Und ich weiß nun, dass die Stimme mich betrogen hat.
ARZT: Wirklich?
JEANNE: Ja. Ich habe mich gegen die Menschen vergangen. Ich hatte kein Recht, die Fremden zu töten. Ich bin nicht die Tochter Gottes, ich bin eine Sünderin.
ARZT: Na, das ist ja immerhin schon ein Fortschritt. Erlauben Sie mir die Frage, warum Sie dann Ihren Kampf nicht eingestellt haben?
JEANNE: Ich muss wohl meinen Weg gehen. Die Stimme ist sehr mächtig. Sie zwingt mich, auch gegen meinen Willen. Und der König hat mich so gebeten. Aber das war das letzte Mal.
ARZT: Hoffen wir’s. Sie können jetzt aufstehen, Mademoiselle. … Sie bekommen dasselbe Zimmer. Mit Blick auf die alte Eiche.
JEANNE: Danke, das ist sehr lieb von Ihnen.
Die Schwester kommt, der Arzt übergibt ihr Jeanne, die Schwester führt Jeanne weg, stützt sie dabei. Der Arzt schaut ihnen nach. Jeanne dreht sich um.
JEANNE: Herr Doktor. Ich mag nicht mehr leben.
ARZT: Das kriegen wir hin.



Rezensionen

Uraufführung: 12.01.2002, Auftragswerk für das Salzburger Landestheater
Regie: Michael Worsch

Ungeniert zielt Felix Mitterer mit seiner emotionsgeladenen Dramatik auf Bauch und Herz …
Tiroler Tageszeitung, 14.01.2002