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Kaiserverlag
Besetzung: 7D / 12H / / Doppelbes. möglich / Sim
Übersetzung:
Aus dem Lettischen von Matthias Knoll
Rechte:
Frei zur dtspr. EA
Typ:
Dramatisches Poem

Lettland, 1795. Deutsche adlige Gutsherren halten Gericht über ihre lettischen Leibeigenen: Eine Kindsmörderin, ein Brudermörder, ein Trinker und eine „Hexe“ sind die Missetäter. Die Urteile sind hart und angesichts der sozialen und psychischen Situation zutiefst ungerecht.
Doch dann halten die Letten untereinander ihr eigenes Gericht: Im Gefängniskeller treffen zum Fest des Martinstages verkleidete lettische Leibeigene, die im Vollrausch über die Stränge geschlagen hatten, auf die zum Tode Verurteilten. Die Unterdrückungspolitik der Gutsherren hat ganze Arbeit geleistet. Die Entsolidarisierung eines Volkes wird offenbar als sich die Entwürdigten und Verurteilten vor einer als Tod verkleideten Frau rechtfertigen. Der „Tod“ erweist sich als strenge, gefürchtete Richterin, vor der die Angeklagten ein tiefgreifendes Schuldbewusstsein haben als vor den deutschen Gutsherren.
Doch die Hoffnung findet in dem Verteidiger Garlieb Merkel und einer sagenumwogenen Heilerin ihre Vertreter. Die Heilerin gibt ihre Kraft an ihre Schwester weiter und eines Tages wird sich ein Volk aus der Knechtschaft befreien.
Ein Drama um Kultur und Selbstverständnis des lettischen Volkes. Ein Volk, das zweihundert Jahre später die sanfte Revolution des Sowjetreiches eingeläutet hat mit seinen Liedern – und siegte.


Leseprobe

4. Szene

Der Diener führt Andrievs aus dem Zuschauerraum zu dem Tischchen mit der Bibel.

RICHTER
Leg deine Hand auf die Bibel und schwöre bei Gott, dem Herrn, daß du die Wahrheit sagen wirst und nichts als die Wahrheit.

ANDRIEVS
Ich schwöre.

RICHTER
Wie heißt du? Wem gehörst du?

ANDRIEVS
Ich – Andrievs. Pinkjis Andrievs. Höriger
des Gutes D.

RICHTER
Weißt du, weshalb du hier stehst?

Andrievs schweigt.

RICHTER
Du wirst des Mordes an deinem Bruder bezichtigt. Was hast du dazu zu sagen?

Andrievs schweigt.

RICHTER
Bekennst du deine Schuld vor Gott, dem Herrn, und vor dem Hohen Gericht?

Andrievs schweigt trotzig.

RICHTER
Bist du der Mörder deines Bruders?

ANDRIEVS
Ja, Herr.

RICHTER
Nun sprich! Erzähle, was geschah!

ANDRIEVS
Der Bruder war im Krug, ach, schon vier Tage,
doch hatte er den Schlüssel von...
der Speisekammer mitgenommen in...
die Schenke.

RICHTER
Nun weiter, weiter!

ANDRIEVS
Wir alle starben fast vor Hunger.
Vier Tage...
Die Kinder heulten, und die Großen schlugen,
schon kraftlos, aufeinander ein in ihrem Zorn,
vor Wut... da sagte Liese, meine...
nun, Schwägerin: Andrievs,
du mußt zurückgehn in die Schenke...
sonst sterben sowohl deine als auch meine...
nun... Kinder. Also ging ich.
Ein weiter Weg...

RICHTER
Fahre fort! Und nicht so langsam!

ANDRIEVS
Nun... Liese hat mir eingeschärft: bring ihn
nicht heim. Nur Elend kommt von ihm... dem Bruder...

RICHTER
Also erzähle. Wie hast du deinen leiblichen Bruder umgebracht?

ANDRIEVS
Ich zog ihn aus der Schenke mit Gewalt,
wir gingen und... es stellte sich heraus –
der hat mein Geld versoffen! Herr,
er hat mein Webgeld mir gestohlen!
Vertrunken! Alles! Ach, verflucht! Verflucht!

RICHTER
Friedlich! Du bist hier nicht in der Schenke! Weiter!

ANDRIEVS
Mein Webgeld, Herr! Für das ich frei
mich hätte kaufen können... frei!
Dann hab ich ihn...
mein Webgeld!
Daheim die Kinder starben Hungers!
Ich hab ihn... Liese sagte,
du bringst ihn, Andrievs, nicht ins Haus...