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Kaiserverlag

Schwarze Schafe zählen

Profitheater Dramatik, Zeitstücke
Besetzung: 3D / 2H / Simultanbühne
Rechte:
Frei zur UA

Dr. Schneider betreibt eine gut gehende Entzugsklinik. Von staatlicher Seite ist das sehr erwünscht, denn des Doktors Methode ist radikal und kostensparend und löscht jegliche Erinnerungen durch Schlafnarkose und Elektroschocktherapie.
In den Genuss dieser Methodik kommen die Alkoholikerin Marie und der Witwer Georg. Georg leidet nach dem Tod seiner Frau am gebrochenen Herzen. Aber Sehnsucht ist auch eine Sucht, und Träume und Erinnerungen sollen nun für immer gelöscht werden.
Doch die Behandlungen gehen schief. Die Patienten träumen weiterhin und führen ein Leben in phantastischen Parallelwelten. Schwester Anne sabotiert das Ganze obendrein durch zu viel Menschlichkeit und Mitgefühl. Die Machenschaften des unheimlichen Doktors werden letztlich bei einer Ärztegala offenbart.
Ein futuristisches Szenario, das die Macht eines totalitären Systems zeigt und ein wesentliches Interesse an einer allumfassenden „Volksgesundheit“ hat. Denn Träume, Fantasie und Abhängigkeiten sind eine Gefahr für alles regulierende und kontrollierende Machtgelüste.


Leseprobe

I.3.

Marie reibt sich ihre etwas roten Handgelenke, als der Doktor mit einem Tablet den Raum betritt. Seine schlanken Finger wischen gekonnt über die Benutzeroberfläche und bieten zwischendurch Marie einen Sitzplatz an.
MARIE: (klar) Ich bin ein Irrtum.
DOKTOR: (väterlich scherzend) Also ich sehe eine schöne junge Frau und keinen Irrtum.
MARIE: Jetzt hören Sie mal zu: ich sehe einen Irrtum und einen falschen Zeitpunkt für Spaß!
DOKTOR: (väterlich, obwohl nicht sooo viel älter) Nanana, Spaß ist selten verkehrt.
MARIE: Wenn Sie in den nächsten Tagen eine Anzeige wegen Verleumdung erhalten, dann hat es sich ausgelacht.
DOKTOR: (schulterzuckend) Ich muss Sie enttäuschen: Sie sind kein Irrtum.
MARIE: Ich kann nichts anderes als ein Irrtum sein! Überprüfen Sie das nochmal.
DOKTOR: Sie sind goldrichtig!
MARIE: Für mich ist das Gespräch an dieser Stelle zu Ende.
Ich bin mir sicher, dass es noch eine andere Marie gibt!
DOKTOR: Ich bin überzeugt, da gibt es noch einige. (Lacht über seinen eigenen Witz.)
MARIE: Eine mit meinem Nachnamen!
DOKTOR: Mein Name ist übrigens Dr. Schneider.
MARIE: Warum sollte ausgerechnet ICH diese staatliche Maßnahme brauchen?
Wie um ihre Aussage zu unterstreichen schlägt Marie mit der Hand auf den Schreibtisch des Doktors.
DOKTOR: Wenn Sie sich hier weiter so aufführen, dann ruf ich nochmal die Polizei.
MARIE: (massiert mit der einen Hand das andere Handgelenk; aggressiv) Damit die mir wieder Handschellen anlegen und mir fast die Arme brechen!
DOKTOR: Sie haben von uns einen blauen Brief erhalten.
Und wenn Sie dann nicht erscheinen, um bei uns vorzusprechen, dann /
MARIE: (laut und aggressiv) / müssen Sie mich mit Polizeigewalt hereinprügeln?!
DOKTOR: Sie wurden gemeldet /
MARIE: / denunziert /
DOKTOR: (unbeirrt) ... und wir haben das überprüft.
Wir
machen
keine
Fehler.
(erhebt sich) Sie warten hier!
MARIE: Sicher nicht!
DOKTOR: Es gibt Menschen, die flehen mich an, um hier überhaupt aufgenommen zu werden.
MARIE: (will sich ebenfalls erheben) Gut, dass eben ein Platz frei wird.
Wenn Ihre Maßnahme so toll funktionieren würde, dann würden die Menschen doch freiwillig herkommen! Ich hab vor ein paar Tagen gelesen, dass die meisten unfreiwillig eingeliefert werden.
DOKTOR: Sucht ist ein Stigma.
Das stülpen sich nur die ganz Mutigen freiwillig über.
Der Doktor steht auf und verlässt den Raum. Man hört einen Schlüssel im Schloss und seine Rufe nach „Schwester Anne“.
Wenn man genau hinhört, ist ein leichtes Klirren zu vernehmen. Es ist Maries restlicher Mut, der gerade hinunterfiel und zu Bruch ging.